In Nova Scotia, Kanada
von Reinhard Zollitsch
Juli-August 2004
Die 400-Jahr-Feier
Für alle Frankoamerikaner und -kanadier von Louisiana bis Nova Scotia gab das Jahr 2004 einen ganz besonderen Grund zum Feiern. Vor 400 Jahren, genau am 26. Juni 1604, landeten Pierre Dugua und Samuel de Champlain mit 77 Seeleuten und Siedlern auf zwei großen Schiffen auf der heutigen St. Croix Insel direkt an der kanadisch/amerikanischen Grenze (zwischen den zwei Bundesländer New Brunswick und Maine; siehe Karte; nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Insel in der Karibik). Dies war die erste permanente Handelssiedlung von Nordeuropäern entlang der westlichen Atlantikküste, noch vor der britischen Siedlung in Jamestown, Virginia (1607), und den Pilgervätern in Plymouth, Massachusetts (1620).
Dugua, mit dem Titel “Sieur de Mons”, wurde vom französischen König zum “Lieutenant General de Acadie” ernannt und erhielt das Monopol im lukrativen Pelzhandel für das gesamte Gebiet, das sowohl Akadien als auch Neu-Frankreich genannt wurde. Mit dieser Siedlung und der Gründung der Stadt Québec von Champlain zwei Jahre später ist der Grundstein der heutigen 16 Millionen französisch-sprechenden CAN/AM Bevölkerung gelegt, ein legitimer Grund zu einer großen Feier in zünftigem akadisch/cajun Stil mit viel Musik, Tanz und Essen, alles unter der französischen Trikolore mit goldenem Stern, der Fahne der Akadier.
Die Maritimen Provinzen Kanadas waren 2004 besonders festlich gestimmt. Die Stadt Halifax hatte sogar eine internationale Windjammer Parade entlang der Champlain Route geplant, von Halifax, wo die Akadier zuerst Land sahen, um die Südspitze Nova Scotias herum in die Bay of Fundy (“Franzosen Bucht”, wie sie damals genannt wurde), und schließlich hinüber nach St. John, ganz in der Nähe der ersten Siedlung auf der Insel St. Croix.
Meine Reisepläne
Der gesamte historische Hintergrund passte bestens in meine Pläne für meine grosse Kanureise für das Jahr 2004. Im Jahr zuvor war ich solo 720 km um die Nordosthälfte von Nova Scotia gepaddelt, von Port Elgin nach Halifax. Der zweite Teil sollte mich von Halifax um die Südspitze in die Fundy Bucht nach Digby führen, weitere 611 km. Ich holte mir für den Zweck die Reiseberichte von Champlain aus der Bücherei (siehe Anhang) und studierte genau, wann, wo und wie diese ersten französischen Siedler schließlich ihr Ziel gefunden haben. Der zweisprachige Text meiner Ausgabe war übrigens faszinierend, besonders das Kartenmaterial, das Champlain erst zusammenstellen mußte und das dann lange als DIE Karte Nordamerikas galt.
Aber im Jahre 1604 war alles noch Neuland, bis auf die minimale Information von Fischern aus dem Baskenland, Spanien, Portugal, Frankreich und England. Niemand hatte vorher entlang dieser Küste überwintert; die Fischer waren sozusagen nur Sommergäste auf den vorgelagerten Inseln und gingen nur selten an Land.
Die Windjammerparade sollte am 29. Juli in Halifax starten und nach einigen Zwischenstationen am 15. August in St. John, New Brunswick, enden. Und das sollten auch meine Reisedaten sein, obwohl Juli und August laut “Sailing Directions” für dieses Gebiet die nebelreichste Zeit ist (siehe Anhang). Aber ich hatte genügend Erfahrung mit Nebelnavigation und fuhr meine täglichen 20 Seemeilen (36 km), sogar trotz zwei vorbeiziehender Orkanreste.
Strecke eins: 425 km in den Wind nach Cape Sable Island (nicht zu verwechseln mit Sable Island im offenen Atlantik)
Die Karte anklicken zur Vergrößerung
Nebel und Gegenwind grüßten mich sobald ich aus dem Halifax Hafen herauskam. Aber zum Glück hatte ich beste Sicht um die grandiosen Granitfelsen von Peggys Cove herum und nächsten Morgen für meinen großen Sprung über die Mündung der St. Margarets Bucht. Auch Mahone Bay war wie so oft nebelfrei und ist daher und auch wegen seiner vielen hübschen kleinen Schäreninseln zum “ocean playground” Kanadas geworden.
Mich aber interessierte die nächste Bucht mehr, die La Have Bay, da dort Dugua und Champlain zum ersten Mal vor der Küste ankerten, und zwar laut Karte von Champlain vor einem großen halbkreisförmigen Sandstrand. Ich aber habe statt dessen mein kleines granitfarbenes Zelt etwas geschützter auf einer kleinen Insel (Bush Island) ganz in der Nähe aufgeschlagen.
Von dort ging meine Fahrt an “Por du Rossÿgnol” (heute Liverpool Harbor) vorbei nach Port Mouton, was heute so etwa wie “Matuhn” ausgesprochen wird (mit der Betonung auf der zweiten Silbe). Die französischen Segler sollen hier ein “mouton”, ein Schaf, über Bord verloren haben. Das arme Viech ist laut meiner Quelle ertrunken und wurde zu Abend serviert.
Champlain auf Kundschaftfahrt
Die zwei großen Schiffe der Expedition blieben hier in Port Mouton etwa einen ganzen Monat vor Anker, während Champlain mit elf Mann in einer kleinen Segelpinnace die beste Route in den Bay of Fundy nach Digby auskundschaftete. Die Bucht hat übrigens wunderbare Sandstrände, kleine Dünen sogar, und ist von allen Winden geschützt. Auch für mich war Port Mouton mein bester Campingplatz, zumal die nächsten 16 km Küste zu einem kanadischen Nationalpark gehören, wo Landen und Camping streng verboten sind.
Champlains Port Mouton
In Shelburne (ehemals Port Razoir) traf ich wieder auf die Windjammerparade, sah aber nur Segel und Masten, da die Segler in einer Bucht 8 km weg ankerten. Ich paddelte weiter um “Cape Negro” herum, laut Champlain das “Kap der schwarzen Felsen” und durch einen 400 Meter langen, schmalen Kanal (1828 gebaut) in die nächste Bucht, Port La Tour Bucht. Cape Baccaro und Cape Sable Island waren die letzten zwei Kaps vor der Fundy Bucht und sahen äußerst unfreundlich aus.
Für die Umrundung von Cape Baccaro hatte ich absolut Ebbe geplant, fand aber dennoch starken Strom, neuen Wind und alte Dünung und musste ernsthaft tanzen. Ich entschied mich da, nicht auch noch um Cape Sable Island zu paddeln, sondern notfalls über den Straßendamm zu tragen, falls keine Brücke im Damm vorhanden war. (Und es gab keine!) Auf meiner Seekarte war überall um Cape Sable Island Gezeitenbrandung eingetragen. Ich hatte genug getanzt, und das immer ganz allein. Ich fühlte mich plötzlich winzig klein, und entschied mich deshalb für Plan B - und alles ging gut.
Endlich um die Ecke
Mit Kap Baccaro und Kap Sable Island hatte ich endlich die Kurve in den Bay of Fundy gerundet. Mein Kurs war jetzt mehr nördlich, die Sonne war nicht mehr in meinen Augen, der Wind mehr achterlich, Ebbe und Flut aber entschieden stärker. Die Namen der Häfen wechselten ebenfalls und waren meist französisch wie Chebogue, St. Aphonse, Meteghan, Saulnierville, Comeauville, Grosses Coques, Belleveau, St. Bernard, und meine Lieblingsnamen “Cape Forchu” (Gabelkap) und “Sissiboo River” (Fluß der Sechs Eulen - Six Hibou). Viele der frühen Akadier, die sich hier ansiedelten, wurden in den Jahren 1755-1778 von den Engländern ausgewiesen (“Expulsion”). Die Namen und ihr Kulturgut aber blieben bestehen, und viele Akadier kamen später wieder zurück.
Cape Forchu, Yarmouth, im Nebel
In Meteghan waren die Windjammern schon im Hafen. Besonders bestaunt wurde Nova Scotias schnellster Grandbanks Zwei-Mast-Schoner, die BLUENOSE II.
Hurricane Bonnie kam die nächsten zwei Tage in die Bay of Fundy, und die BLUENOSE flog mit minimaler Beseglung draußen rum nach Digby rein, während ich im Regenanzug und Schwimmweste mit dem Wind und dem starken Flutstrom tiefer in die St. Marys Bucht schoss.
Wie geplant kam ich am 14. August 2004 bei voller Flut in Barton/Digby an. Und als meine Frau Nancy und ich in Digby auf das Fährschiff nach St. John fuhren, war die BLUENOSE auch schon im Hafen, von wo sie uns morgen über den Bay of Fundy nach St. John folgen würde.
Ende der Reise in Digby
Gedanken zur ersten Siedlung
Ursprünglich wollte ich mir auch noch die zweite akadische Siedlung in Port Royal, Nova Scotia, ansehen, ganz in der Nähe von Digby. Aber Hurricane Bonnie machte einen Strich durch die Rechnung. Die erste akadische Siedlung auf der St. Croix Insel hatte nämlich nur knapp ein Jahr gedauert. Von den 79 Mann starben 35 an Kälte, Hunger und Skorbut (Vitamin C Mangel). 20 weitere mussten im Frühjahr wieder gesundgepäppelt werden.
Champlains Siedlung
Irgendwie hatten die Siedler einen kardinalen Gedankenfehler gemacht. Aber was war der? Und nach ein paar hundert Seiten in Champlains Reisebericht sah ich es plötzlich ganz klar vor Augen. Die Akadier waren gute Seeleute, sehr gute sogar, die die enormen Gezeitenunterschiede im Bay of Fundy (bis zu 15 m) nicht nur gut handhaben, sondern auch zu ihren Nutzen gebrauchen konnten, nämlich als Fluttor. Das hatten sie sicher zu Hause in der St. Malo Bucht, Frankreich, gelernt, die fast ebenso starke Gezeitenunterschiede hat. Sie suchten und fanden eine Insel in einer Bucht (Passamaquoddy), die nur durch drei sehr enge, und dazu felsige Einfahrten erreicht werden konnte. Nur bei Flut kam man herein. Bei Ebbe war die Tür zu.
Aber das Wichtigste bei allen Eintragungen Champlains waren immer die Breitengradangaben. Segler im 17. Jahrhundert, wie schon die Wikinger vor ihnen, dachten nur in Breitengraden. (Längegrade blieben ein Ratespiel, bis man 1714 das Chronometer erfand. Längegrade sind nämlich zeitgebunden: Lauf der Sonne vom Nullmeridian gerechnet.) Jede Küstenstadt hatte damals eine Breitengradnummer (so etwa wie eine Postleitzahl), je nördlicher, je höher, je südlicher, je niedriger, je nach Winkel vom Horizont zum “Leitstern”, dem Nordstern.
Sie segelten also meist eine bekannte Küste hoch oder runter zu einem bestimmten Breitengrad und dann geradewegs nach Westen oder Osten. Bordeaux in Frankreich liegt z. B. auf dem 45. Breitengrad genau wie die St. Croix Insel. Und da liegt nun der Gedankenfehler: 45 Grad an der europäischen ist nicht dasselbe wie 45 Grad an der nordamerikanischen Atlantikküste. Es besteht ein enormer klimatologischer Unterschied zwischen beiden. St. Croix Island hat eine sich schnell abkühlende Landmasse im Westen, die das Wetter bestimmt, während Bordeaux eine wärmespeichernde Wassermasse im Westen hat.
Die Akadier dachten, 45 Grad hier ist etwa so wie 45 Grad dort. Salzwasser in Bordeaux friert nicht. Sie konnten aber nicht wissen, dass die Temperatur in Maine bis auf minus 40 Grad Celsius fallen kann, und dass dann alles friert und bei den Gezeiten sogar Packeis formt, was sehr schwer zu überqueren ist. Sie waren auf der Insel weniger vor Angreifern geschützt als vom Klima gefangen.
Was nun?
Auf jeden Fall sahen sie, dass sie einen Fehler gemacht hatten, auch wenn sie nicht genau wussten, was dieser war. Im folgenden Frühjahr kundschaftete Champlain die Küste bis nach Cape Cod, Massachusetts, runter, fand aber nichts Besseres oder freundlichere Eingeborene und entschied sich schließlich, zurück nach Digby, Nova Scotia, zu segeln. Sie rissen die alte Siedlung ab und bauten sie kurz hinter der natürlichen Gezeitenschleuse Digby Gut (Enge) im sogenannten Port Royal wieder auf.
Von dort breiteten sich die Akadier allmählich auf ganz Nova Scotia, Prince Edward Island, New Brunswick und auch nach Maine herein aus, bis sie, wie schon gesagt, von den Engländern 1755-1778 rausgeworfen wurden. Aber heute gibt es wieder 16 Millionen Frankophone in dieser Ecke von Kanada und USA, und die Landung der ersten Akadier im Jahre1604 war ein würdiger Anlass zu einer stolzen Feier und erneuten Bestätigung ihrer kulturellen Identität als “Akadier”.
Mir gab dieser historische Rahmen eine wunderbar motivierende Kulisse, die mich fortwährend an das seemännische Können und die Entschlossenheit der Siedler erinnerte. Ohne genaue Seekarten und Anweisungen sind sie ohne nennenswerte Haverie um eine der unfreundlichsten Ecken Kanadas gesegelt, oft im dichtesten Nebel, bei starkem meist auflandigem oder Gegenwind und den höchsten Gezeiten der Welt, entlang einer erbarmungslos harten Steinküste. Ich bin beeindruckt!
SALUT DEN AKADIERN!
Information:
NOAA Seekarten und Sailing Directions, Nova Scotia (Seehandbuch)
Scott Cunningham: Sea Kayaking in Nova Scotia. Nimbus, 1996.
H.P. Biggar (Hrg.):The Works of Samuel de Champlain. Bd. I. The Champlain Society, Toronto, 1922.
Technische Daten:
Verlen Kruger Sea Wind Seekanu (5,23 m, Kevlar, mit Deck, Steuer und Spritzdecke)
http://www.krugercanoe.com
Kohlefaser Kanu-Marathon Rennpaddel von Zaveral (312 Gramm); http://www.zre.com
Ritchie Deckkompass
Luneberg Linsen Radarreflektor (auf dem Bootsheck befestigt)
VHF Radio-Telefon mit 24-Stunden NOAA Seewetterbericht
Iridium SatellitenTelefon
Standard Camping Sachen für Strandcamping; Proviant für 20 Tage an Bord; Wassertanks für 10 Liter
Keine Unterbrechung der Reise, keine Außenhilfe, absolut solo
Entfernungen:
Teil I: Port Elgin - Halifax 450 Meilen ( 720 km), in 19 Tagen
Teil II: Halifax - Digby 382 Meilen (611 km) in 17 Tagen
Reiseziel pro Tag: 20 Seemeilen - 22,5 Meilen - 36 km
© Reinhard Zollitsch
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