DEN HUDSON RUNTER
UND ZURÜCK NACH BOSTON

Lake Champlain - New York City - Boston

Mai/Juni 2005

von Reinhard Zollitsch

Die große Runde rechts

Vor genau sechs Jahren, im Mai 1999, begann mein großes Abenteuer: Einmal rum um die “Insel” Neuengland, USA und die Maritimen Provinzen Kanadas - 4000 Meilen oder 6400 km. Auf den ersten Blick sieht die Nordostecke der USA und Kanadas nicht wie eine Insel aus, ist es aber, und Seekajaks, Canadier, Segel- und Motorboote und sogar kleinere Frachter schaffen die Runde.

Ich las mit Begeisterung, wie der legendäre Gloucester Fischer/Ruderer und Segler Howard Blackburn 1902/03 solo von New York den Hudson hoch und dann links ab in die Großen Seen nach Chicago segelte, und von dort auf dem Illinois Fluss und dem Mississippi in den Golf von Mexico schipperte, und dann zurück nach New York (s. Anhang Lone Voyager). Er nannte die Rundreise die “inside loop”, die innere Runde, die dann Nat Stone 1999/2000 im kleinen Ruderboot, ebenfalls solo, nachvollzog (s. Anhang On the Water ).

Das ist ja ganz schön und gut, dachte ich mir, als ich auf die große Landkarte schaute. Aber wie wärs, wenn man vom Hudson nicht links in den Erie Canal und die Großen Seen abbiegt, sondern weiter nach Norden in den St. Lawrence, Kanada, fährt und dann rechts hält, immer rechts, um die Provinzen Québec, New Brunswick, Prince Edward Island und Nova Scotia herum, bis man wieder nach Maine, Massachusetts und New York City kommt - alles natürlich ebenfalls solo und ohne Hilfe durch Begleitboot oder Auto an Land.

Ist diese “outside loop”, die große Runde rechts, in einem halbgedeckten Kruger Seekanu mit Spritzdecke, Steuer und Stechpaddel zu schaffen, und lässt mich die Familie gehen? Es war der einzige Wunsch zu meinem 60. Geburtstag im Mai 1999, und ein paar Tage später, an unserem 35. Hochzeitstag, fuhren Nancy und ich zur Einsetzstelle am Südzipfel des Lake Champlain.

Am nächsten Morgen um 6:00 Uhr ging die 1000-Meilen Fahrt (1600 km) los. 37 Tage später kam ich in Campbellton, New Brunswick, an und habe in den folgenden Jahren die restlichen Strecken, einschließlich um Prince Edward Island, bis zurück nach Boston gepaddelt, alles immer genau nach sorgfältig vorbereitetem Plan, ohne jegliche Hilfe oder Haverie, und immer meinem Zeitplan gemäß (siehe englische Reiseberichte in ATLANTIC COASTAL KAYAKER  und in MESSING ABOUT IN BOATS, beide in Boston).

Im Mai 2005 blieben mir dann nur noch 500 Meilen (800 km) zwischen Boston, New York City und Lake Champlain, um die große Runde zu schließen. Und da ich lieber “nach Hause” fahre als weg von dort und ich den Strom des Hudson sowie die vorherrschenden südwestlichen Winde zu meinen Gunsten nutzen wollte - mit 66 Jahren ist das erlaubt! - fuhren Nancy und ich wieder wie 1999 an unserem jetzt 41. Hochzeitstag nach Whitehall, NY, am Südzipfel des großen Lake Champlain, und sie versprach, mich 20 Tage später in Revere Beach, etwas nördlich von Boston, um “High Noon” wieder abzuholen. What a girl! Thanks, Nancy!

Gap Map
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Die letzten 800 km

Das Fest/Abschiedsessen im traditionellen Finch & Chubb Gasthaus an der Schleuse #12 in Whitehall war wunderbar, und das Bett war oh so weich und eben. Aber lange Checklisten gingen mir fortwährend durch den Kopf, und ich schlief wenig. War alles für 3 Wochen gepackt - Zelt, Schlafsack, Zeug, Essen, Kocher mit Propanflasche, Seekarten, Schwimmweste, Signalhorn, Info-Bücher, VHF Radio und Sat-Phone mit aufgeladenen Batterien, Erste Hilfe Set, , Stoppuhr, Taschenlampe usw. usw.?

Endlich ging der Wecker, aber es regnete kräftig. Was macht’s, ich hab Gore-Tex und war froh, dass es endlich losging.

Start in Whitehall, NY
Start in Whitehall, NY

Das Kanal-System

Der Staat New York hat ein ausgedehntes System von Kanälen, die alle so um 1817-1823 gebaut wurden, wie der bekannteste von ihnen, der Erie Kanal und auch der Champlain Kanal, der New York City mit Lake Champlain verbindet, und von wo man dann auf dem Richelieu Fluss und dem Chambly Kanal weiter nach Norden in den St. Lawrence, nach Montreal und Québec, fahren kann.

In Schleuse #12
In Schleuse #12

Es gibt 12 Schleusen im Champlain Kanal. Die ersten drei heben einen so je 3-6 Meter hoch, die weiteren neun lassen einen so langsam auf Seewasserspiegel in der Stadt Troy runter. Für motorlose Kleinboote war das alles kostenlos, auch wenn ich ganz allein durchgeschleust wurde. Ich fand das toll. Aber was mich erstaunte, war die Tatsache, dass ich unterhalb der letzten Schleuse, 260 km flussaufwärts, bereits auf Meeresspiegel war.

Seit der letzten Eiszeit, so etwa vor 11000 Jahren, las ich, hörte der Hudson auf, ein strömender Fluss, wie z.B. der deutsche Rhein, zu sein. Ursprünglich mündete er etwa 800 km weit im heutigen Atlantik und hatte ein mächtiges Flussbett, heute noch als Hudson Canyon im kontinentalen Schelf zu erkennen. Dann ist der Hudson einfach vollgelaufen und wurde zu einem Fjord, oder wie wir sagen, er wurde zu einem “ drowned river”, einem ertrunkenen Fluss. Der Indianername MUHHEAKUNNUK beschreibt diesen Charakter ebenfalls: ein “Fluss, der in beide Richtungen fließt”, d.h. ein Seearm mit Ebbe und Flut, und zwar ist die Flut in Troy sogar 6 cm höher als an der heutigen Mündung bei Manhattan Island.

Ich kann jetzt viel besser verstehen, warum Henry Hudson so fest glaubte, im September 1609 den legendären Seeweg nach China, die “Nordwest Passage”, gefunden zu haben. Hier war ein mächtiger Seearm, bis zu 5 km breit und 260 km lang, mit einem Gezeitenstrom von bis zu 5 Knoten. Er schnitt sogar durch Gebirgszüge. Nur eines fehlte: Der Arm verlief sturstracks nach Norden, aber nicht nach Westen. Nach Hudsons vielen Fehlversuchen, auch nördlich von Russland im selben Jahr, musste es die NW-Passage sein, sonst wäre er ruiniert.

Und als ich das so dachte, sah ich plötzlich das Schiff, Hudsons 25 m langen Segler Half Moon, am rechten Flussufer. Der Name mit Bild war groß am Heck zu lesen - es war sein Schiff! Es hatte noch die Eiskratzer an der Wasserlinie vom russischen Eis, oder waren die vom letzten Winter auf dem Hudson? Es war natürlich ein authentischer Nachbau, aber es war ein netter Auftakt für meine Flusstage nach New York City runter. Flut war um 6 Uhr morgens - ideal für meine täglichen 40 km. Wenn nur der kalte Regen aufhören wollte und es etwas wärmer würde! Aber es war immer noch besser als letztes Jahr um Nova Scotia herum. Wenigstens gab’s keinen Nebel und keine große Dünung oder gar gefährlich hissende Brecher.

Hudsons Boot Half Moon
Hudsons Boot Half Moon

Der Hudson River - ein amerikanischer Rhein? 

Meine fünfte Nacht verbrachte ich auf der Flussinsel Esopus, zwischen Kingston und Poughkeepsie, die ich mit einer Schar Kanada Gänse teilen musste. Zuerst protestierten sie laut schnatternd, akzeptierten aber am Ende mein granitfarbenes Zelt oberhalb der Tidenlinie, während sie den Steinstrand für sich beanspruchten.
Ich hatte Zeit, mein Tagebuch zu schreiben und über die Eindrücke des Tages nachzudenken. Ich war am frühen Nachmittag an Rhinecliff  vorbeigepaddelt und musste über den häufigen Vergleich des Hudson mit dem deutschen Rhein nachdenken.

Was für ein verzweifelter, vielleicht von Heimweh und Sentimentalität getriebener Vergleich, dachte ich mir. Ich habe schon erwähnt, dass der Hudson mehr ein Meeresarm mit Gezeiten ist, nicht aber ein fließender Fluss wie der Rhein. Dazu gibt’s hier keine Burgen und Schlösser, keine Kirchen oder gar Dome, keine Weinberge und Weinstuben, nicht einmal der Geruch von Bratwurst, Kraut und Bratkartoffeln mit Blasmusik im Drei- oder Viervierteltakt war in der Luft, nichts dergleichen! Auch die schöne Lorelei war nirgends zu finden.

Bannerman Castle
Bannerman Castle

Aber warum soll es auch so sein? Nein, der Hudson hat seinen eigenen Charakter, und hat sein ursprüngliches Aussehen weitgehend bewahrt, wenigstens zwischen den Städten. Besonders urig ist es südlich von Newburgh/Beacon, wo der Fluss durch die Bergkette des Hudson Highland bricht, mit Storm King Mountain auf der rechten und einer fast gleich beeindruckenden Bergkette am linken Ufer. Nur Bannerman Castle auf der kleinen Insel Pollepel ist ein Fremdkörper in diesem Bild. Es ist ein Versuch des Millionärs Frank Bannerman, ein Lagerhaus nach eigenen Bauplänen für seinen Schrott vom Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898) zu errichten, und zwar im Stil eines europäischen Schlosses - ein offensichtlicher Nostalgieanfall. Es wurde 1901-1918 gebaut und ist heute schon eine Ruine, die meines Erachtens nicht schnell genug verfallen kann.

Hudson Highlands
Hudson Highlands


Der Hudson River “Wasserpfad” (HRWA, s. Anhang)

Außer der Bannermann-Monstrosität ist diese Gegend landschaftlich aber enorm beeindruckend. Ich wollte unbedingt hier übernachten. Das war schon von Anfang an geplant und wurde möglich, als ich das Material von der Hudson River Watertrail Association bekam. Seit 1992 hat diese Gruppe in Zusammenarbeit mit anderen umweltfreundlichen Gruppen wie die Hudson River Greenway  und die Riverkeepers unermüdlich daran gearbeitet, den Hudson Kleinbootern zugänglich zu machen, mit Einsetzstellen und minimalen Übernachtungsmöglichkeiten direkt am Ufer, und einen “Wasserpfad” entlang des gesamten Tidenstroms von Troy bis New York City zu erstellen.

Noch vor kurzem sagte man, man riecht den Hudson, bevor man ihn sieht - heute nicht mehr. Enorme Fortschritte wurden erzielt seit Pete Seeger in den sechziger Jahren mit seiner Sloop Clearwater als sichtbares Symbol anfing, über die Reinigung des Flusses und Ökologie zu sprechen.

Heute ist es die HRWA, die es Kleinbootern möglich macht, den gesamten Hudson zu befahren und es mit einer jährlichen Gruppenfahrt für jedermann beweist. (Die 2005 Fahrt war vom 8. - 17. Juli; die nächste ist vom 13. - 22. Juli 2006.) So etwas wäre übrigens für deutsche Paddler am einfachsten, diese Gegend zu sehen: alles ist geplant, und was fehlt, kann sicher an Ort organisiert werden. Der “Flussführer” (ein dicker Ringhefter) war auch für mich unentbehrlich.
Was meine Fahrt dann noch bedeutender machte, war ein kurzes Gespräch von Boot zu Boot mit dem Riverkeeper  sowie unterhalb von Worlds End  und West Point Academy ein weiteres Gespräch mit der jungen Besatzung der Sloop Clearwater.

Pete Seegers CLEARWATER
Pete Seegers CLEARWATER

Als der Regen endlich aufhielt, hörte ich ein erstaunliches  Singvogelkonzert einschließlich “cardinals”, “mockingbirds”  und “Baltimore orioles”, mit dem Bass einiger Raben eingemischt. Und dazu am Tag etliche Entenarten, Kormorane, Graureiher, und ab und zu sogar ein paar Fisch- und Seeadler (“osprey” und “American eagle”). Ich war beeindruckt. Es war alles andere als ein “stiller Frühling” (s. Rachel Carson: Silent Spring) entlang dieser Hauptvogelfluglinie nach Norden.

Wie an der deutschen Ostsee
Brücken über den Hudson - neu und alt

Vom Fluss zur Bucht

Nach der Bear Mountain Brücke bei Peekskill verbreiterte sich plötzlich der Fluss und sah plötzlich mehr wie eine Meeresbucht aus als wie ein Fluss. Die Havershaw Bucht  ist fast 5 km breit und doppelt so lang. Da kann der Wind schnell Wellen aufwerfen - vorsicht! Mein Ziel war eine kleine HRWA Campingmöglichkeit an der Südspitze der Halbinsel Tellers Point mit Blick auf die große Tappan Zee Brücke. Es war “Memorial Day”, ein großer Feiertag hier in den USA, und alles, was ein Boot hatte, war auf dem Wasser.

Ich sah alles bis hin zu den superschnellen Offshore Oceancats. Als die Flut kam und der Wind auf Westen drehte und dann mit 30-40 Stundenkilometer an Land presste, merkte ich, dass ich mein Zelt entschieden zu nah am Wasser aufgestellt hatte. Ich baute einen Wellenbrecher aus all dem Treibholz, das ich finden konnte, und es ging knapp OK.

Spuyten Duyvil - der spuckende Teufel

Spuyten Duyvil war für meine nächste Etappe äußerst wichtig, weil ich für meine Fahrt durch New York in den Long Island Sound einen guten Absprungpunkt haben musste. Ich wollte direkt an der Mündung des Harlem River übernachten, der übrigens gegen Erwarten nach Norden ebbt, während der Hudson natürlich nach Süden fließt. Der Harlem spuckt also einen starken Ebbstom durch seine enge Mündung in den Hudson.

Ich hatte mir vor meiner Fahrt vom Columbia University Ruderverein Erlaubnis geholt, auf dem Gelände mein minimales Zelt aufzuschlagen. Ich hatte den ehemaligen Coach und Goldmedalliengewinner von 1964 (USA Achter vor dem Ratzeburger Achter und den Russen) sowie den Hauptmäzen des Vereins als meine Fürsprecher, aber irgendwie erreichten die e-mails nicht den heutigen Coach, und er warf mich kurzentschlossen raus, mitten in meinem Abendessen. Zelt und alles waren schon aufgebaut und vom Sicherheitspersonal und dem Hauswart akzeptiert.

Da kann man nichts machen. Kleine Menschen verstehen einfach nicht, dass es im Leben auch Ausnahmen gibt. Also, alles wieder eingepackt und gegen den Ebbstrom zu einem kleinen Flecken Niemandsland zwischen einer Marina und nächstem Ruderclub. Diesmal habe ich gar nicht erst um Erlaubnis gefragt, denn dann bekommt man meist eine negative Antwort (siehe Columbia University). Wenn man nicht fragt, nimmt jeder an, man hat ’ne Erlaubnis von jemandem. Ich wollte sie nicht enttäuschen.

Durch Hell Gate in den Long Island Sound

Die bevorliegenden 13 km mussten genau geplant werden. Hell Gate ist die Enge, wo der Harlem und East River zusammen in den Long Island Sound fließen. Diese Stelle konnte ich nur am Ende der Flut passieren, sonst ist es da, wie der Name andeutet, höllisch wild mit starkem Strom und brechenden Wellen aus fast allen Richtungen. Dazu gibt’s große Wirbel, da die Flut gegen eine Felswand prallt und in einen Kreis gezwungen wird, und das linke Ufer ist dazu  noch mit diversen Felsen gespickt.

Flut war um etwa 5 Uhr morgens, d.h. ich musste um 3 Uhr nachts im Dunkeln los, mit der Karte und einem Zeitplan im Kopf. Es war verdammt dunkel. Ein Sichelmond raste durch eine niedrige Wolkendecke. Nur Straßenlaternen und Licht von den Gebäuden erleuchteten meinen Weg auf dem schmalen, dunklen Fluss. Dann schwang der Harlem nach rechts, und zwei große Hängebrücken kamen in Sicht. Der Fluss wurde auch plözlich breiter und schwang wieder nach links, bis ich auf eine kleine Felsinsel stieß.

Das muss Mill Rock sein, dachte ich mir und machte zum ersten mal meine Taschenlampe an. Richtig, und die Flut kommt noch rein, vielleicht etwas stärker als geplant, weil ich schneller war, aber Hell Gate sah machbar aus. Also, rüber auf die rechte Seite - gut, kein Verkehr - und dann rein in die Chose, den Long Island Sound.

Nach acht weiteren Seemeilen (14.4 km) und zwei riesigen Hängebrücken war ich endlich drin im Sund, und es war erst 7 Uhr - großartig. Jetzt aber erst mal  frühstücken!

Den langen, langen Long Island Sound entlang

Long Island Sound, d.h.die Küste Connecticuts, schien endlos zu sein und hatte außerdem seinen Charakter verloren. Bei dem täglichen Dunst und Nebel gab’s rechts nichts zu sehen, und die Küstenlandschaft links verschwand hinter einer Kulisse von Wochenendhäusern. Die waren oft so eng aneinander gepresst, dass man von einem Deck zum nächsten den Kuchenteller reichen könnte. Dazwischen eingefercht waren hier und da eingezäunte Naturschutzgebiete mit Warnschildern alle 100 Meter, und dann und wann ein weißer kleiner Strand mit schrill schreienden kleinen Kindern. Ich paddelte meine 40 km halb wie im Traum und fand mich immer weiter von der Küste weg.

Nur zwei Inselgruppen gab es auf der ganzen Strecke nach Rhode Island, die Norwalk Islands und The Thimbles (die Fingerhut Inseln). Aber auch die waren so dicht bebaut, dass ich dort keine Lande- oder Übernachtungsmöglichkeit fand. Oft hatte selbst die kleinste Schäre ein Haus darauf, das aus einiger Entfernung so aussah wie eine fette Rhodeländerhenne auf ihrem Gelege. Ich sehnte mich plötzlich nach meiner Küste in Maine, paddelte aber mechanisch weiter, bis ich nach Rhode Island und Narragansett Bay  kam.

Narragansett und Buzzards Bay

Endlich gab es wieder eine echte Steinküste und größere Buchten, die es zu überqueren galt. Dazu kam die Sonne raus, und ich sah endlich den klaren, offenen Horizont an Steuerbord, wie ein sanft geschwungener Bogen, nicht gerade, wie im Schulzeichenunterricht. (Schon als kleiner Junge hatte mich das gestört, weil ich von meinem Großvater, dem Segelschiffskapitän, wusste, dass es ein Rundbogen war.)

Die Wochenendhäuser waren in der Newport Gegend nicht so häufig, wurden aber ins Monumentale gesteigert. Es waren die Schlösser der Reichen des 19. Jahrhunderts, riesige Dollarpaläste, waren aber architektonisch und auch landschaftlich meist recht geschmackvoll - das muss ich zugeben.

Dann war ich auch schon am Cape Cod Canal, der übrigens keine Schleusen hat, dafür aber einen Strom von maximal 5 Knoten.  Ich hatte mir im voraus eine Sondergenehmigung geholt, da motorlose Boote im Kanal nicht zugelassen sind, musste es dann aber dulden, vollbeladen auf einem Bootsanhänger 14 km zur anderen Seite verholt zu werden. Ich war machtlos, denn ich wollte nicht noch weitere  200 km ganz um die Halbinsel Cape Cod herumpaddeln.

Cape Cod Canal
Am Cape Cod Kanal

Endziel: Boston

Die letzte Strecke an Massachusetts vorbei zurück nach Revere Beach/Boston waren zwei lange heiße Tage zu je 45 km. Statt Landschaft links gab’s wieder eine endlos scheinende Reihe von Wochenendhäusern, ein paar öffentliche Sandstrände und winzige Naturschutzgebiete, dazu riesige Kondo-Komplexe. Mein Horizont verschwand auch wieder im heißen Dunst, und mir wurde nach siebeneinhalb Stunden und bei 30 Grad echt warm im Boot. Aber Nancy war da zur verabredeten Zeit mit Dachgepäckträger und Halteriemen. Vielen Dank, meine Liebe!

Und damit endete meine diesjährige 800 km Kanufahrt wie geplant in 20 Tagen und zugleich auch meine 6400 km lange Rundreise um die Neuengland Staaten der USA und alle benachbarten Maritimen Provinzen Kanadas - ohne jegliche Haverie oder ernsten Zwischenfall. Nur dreimal (von insgesamt etwa 160 Übernachtungen) wurde ich rausgeschmissen und musste mit meinem Zelt umziehen  (übrigens immer von Institutionen: einem Nationalpark, einer Uni und dann in einem unbeschilderten militärischen Freizeitpark).

Ich war plötzlich froh, wieder zu Hause zu sein. Ich war auch froh, diese Rundreise beendet zu haben. Nach den zwei letzten langen, heißen Tagen war ich ganz einfach froh, wieder an Land zu sein, normal zu essen und wieder auf einem ebenen, weichen Bett zu schlafen und Nancy wiederzusehen.

Möglichkeiten für deutsche Paddler

Der Höhepunkt meiner diesjährigen Reise waren ohne Frage die ersten 350 km von Lake Champlain den Kanal und den Hudson runter nach New York City und durch Hell Gate in den Long Island Sound. Für deutsche Paddler auf Besuch in USA wäre die 248 km Strecke auf dem Hudson von der Schleuse in Troy zur Statue of Liberty/New York City ohne Frage die interessanteste und ist unbedingt machbar, da die HRWA alles bestens für Paddler ausgelegt hat. Es wäre vielleicht noch einfacher und dazu geselliger, an der jährlichen Flussfahrt der HRWA teilzunehmen. (Nächste Reise vom 13. - 22. Juli 2006.) Für ein paar Euro werden Übernachtungen, Essen usw. von der HRWA geplant.

Der Hudson ist ohne Frage ein äußerst ergiebiges Gebiet, sowohl landschaftlich als auch historisch, und dazu ist diese Strecke eine echte körperliche und kanutechnische “challenge”, wie wir sagen. Henry Hudsons “North River” oder “Great River”, wie er ihn auch nannte, ist gewiss ein höchst interessanter, mächtiger Gezeitenstrom, ideal für moderne Seekajaks. Na, wie wär’s?

Ankunft in Revere Beach/Boston
Ankunft in Revere Beach/Boston

Infos:

Kartenmaterial: NOAA und “small craft charts” by MAPTECH (Champlain Canal, Hudson River, East River, Western Long Island Sound, Watch Hill to New Haven, Cape Cod Canal, Cape Cod Bay, Massachusetts Bay, Boston Harbor)
NOAA: U.S. Coast Pilot 2 (Atlantic Coast: Cape Cod, MA to Sandy Hook, NJ)
Hudson River Watertrail Association: The Hudson River Water Trail Guide, 6th edition, 2003. Siehe auch: http://www.hrwa.org
Tamsin Venn: Sea Kayaking along the New England Coast. AMC Books, Boston, MA, 2nd edition, 2004.

NY Barge Canal System: http://www.canals.stateny.us

Cape Cod Canal: http://www.nae.usace.army.mil/recreati/ccc/ccchome.htm

Weiteres Lesematerial:

Peter Lourie: River of Mountains (von der Quelle bis zur Mündung im Canadier). Syracuse Univ. Press, 1995.
Joseph E. Garland: Lone Voyager (the Howard Blackburn Story). Touchstone, NY,1963. (die “inside loop” im Segelboot).
Nathaniel Stone: On the Water (Blackburns “inside loop” allein im Ruderboot). Broadway Books, NY, 2002.
Rachel Carson: Silent Spring. Houghton Mifflin, Boston, 1962.

Ausrüstung:

Verlen Kruger 5.20 m SEA WIND Kevlar, halbgedecktes Seekanu mit Steuer und Spritzdecke. (http://www.krugercanoes.com)
Carbon Marathon Kanurennpaddel von Zaveral (308 g) (http://www.zre.com)

VHF Radio-Telefon mit 24-Stunden Wetterbericht

Iridium Satelliten Telefon (nur für kurze ausgehende Anrufe gebraucht)
WEST MARINE Luneberg-Linsen-Radarreflektor und orangefarbenes Fahrradzitterfähnchen auf dem Heck (damit man mich besser sehen kann)
Normale Camping Sachen und Proviant für die ganze Fahrt (meist in Dosen) zwei 10 Liter Wassertanks, zweimal aufgefüllt
Kosten außer Einsetz-und Abholfahrt: Keine

Dieser Fahrtenbericht erschien zuerst in ähnlicher Form auf Englisch in der Zeitschrift MESSING ABOUT IN BOATS mit dem Titel “Closing the Gap” (Boston, 1/15. Okt. 2005). Eine kürzere Fassung erschien in ATLANTIC COASTAL KAYAKER  (Boston, Okt. 2005) und ist auch im Web der HRWA zu lesen http://www.hrwa.org .

© Reinhard Zollitsch

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