IM OFFENEN KANU
ERSTER TEIL
FLENSBURG-LÜBECK
Von Reinhard Zollitsch
Schon seit meiner frühesten Jugend hatte ich es mir vorgenommen, wie meine Buchhelden Nils Holgersson in Schweden und Peter Jünk in Schleswig-Holstein, meinen Heimatstaat zu überfliegen und näher kennenzulernen. Mit 63 Jahren ist es aber schwerer, sich als Däumling zu denken, und willige Wildgänse und gut informierte Silbermöwen, die einen auf ihrem Rücken reiten lassen, sind heutzutage auch kaum noch zu finden. Aber der Gedanke, besonders die Ostseeküste allein und mit minimaler Ausrüstung genauer zu erkunden, ist geblieben. Und wenn man schon so eine Fahrt plant, warum dann nicht die ganze deutsche Ostseeküste entlang, von Flensburg an der dänischen bis hin nach Ahlbeck an der polnischen Grenze, ganze 390 Seemeilen oder 700 km.
Da ich heute nicht weit vom Firmensitz der größten amerikanischen Kanufirma OLD TOWN CANOE im Staate Maine wohne, die auch einen Vertreter in Hamburg hat, liegt es ebenfalls nahe, ein offenes Indianerkanu mit Stechpaddel zu benutzen. Ich kenne mich mit den Booten sehr gut aus und habe schon zahlreiche längere Fahrten an der amerikanisch-kanadischen Atlantikküste entlang und dem Golf von St. Lawrence gemacht. Sportschifffahrtskarten für die Ostsee vom NV Verlag in Arnis habe ich auch im Web ausmachen können, hab’ sie bestellt und genau studiert, um zu sehen, wo ich jeden Tag nach 20 Seemeilen (36 km) an Land mein Zelt aufschlagen kann. Campingplätze und Ortschaften wollte ich nach Möglichkeit vermeiden.
Ich bin es gewohnt, voll ausgerüstet zu fahren, einschließlich Wasser, und plante deshalb nur einen Zwischenaufenthalt in Lübeck. Da sollte sowieso eine große Familienfeier stattfinden, die der eigentliche offizielle Anlass meines Deutschlandbesuches war. Ich hatte für zwei mal elf Tage Verpflegung eingekauft (ALDIs beste Eintopfgerichte aus der Dose zum Abendessen, Erdnussbuttersandwich mit Karotte und Apfel zu Mittag und Müslimix zum Frühstück, und dazu Leitungswasser, Kaffee oder heiße Schokolade). Einen kleinen Kartuschen Propankocher lieh ich mir aus, da ich damit nicht fliegen durfte. (Offene Feuer am Strand passen sowieso nicht zu meinem umweltfreundlichen Minimalistenstil.) Alles andere brachte ich in zwei großen Seesäcken von USA mit.
Mein Boot war ein 16 Fuß (4,88 m) OLD TOWN Penobscot, das ich zu Hause bei mir in Maine gründlich getestet hatte. Da ich es allein auf der Ostsee paddeln wollte, musste ich einige kleine Extras einbauen. Zunächst, ein Doppelkanu paddelt man am besten allein vom Bugsitz, aber in Richtung Heck schauend, sodass man mehr in der Mitte des Bootes zu sitzen kommt. Es ist auch besser, wenn man Hüftpolster einklebt, damit man bei Wellengang nicht auf dem Sitz seitlich hin und her rutscht, sondern wie bei einem Kajak fest im Boot verankert ist.
Eine Stemmleiste, die man am Sitz festbinden kann, hilft auch auf langen Touren. Über den Bug (ehemals Heck) binde ich auch immer eine etwa 3 Fuß (~1 m) lange Deckplatte aus dünnem Plexiglas ein, die dann noch mit einem breiten Klebestreifen am Süllrand befestigt wird. All mein Gepäck ist in wasserdichten Säcken und in eine feste Halteleine im Boot mit Karabinern eingepickt, sodass nichts über Bord gehen und davonschwimmen kann. In USA sind wir es außerdem gewohnt, eine Schwimmweste zu tragen oder wenigstens griffbereit im Boot zu haben, sowie auch eine Pfeife, ein Signalhorn und Marine-Radio-Telefon. Enttäuscht war ich, als ich erfuhr, dass es keinen 24-Stunden-Seewetterbericht über Radio mehr gibt. Also war ich ganz auf mich selbst angewiesen, wie früher die Wikinger oder Hanseschiffer - eine Challenge, aber kein Problem.
Am 24. Mai, genau 8:00 Uhr morgens, ging die Fahrt wie geplant und fast unbemerkt im Flensburger Innenhafen los. Für mich ist es immer eine große Erleichterung, endlich im Boot zu sitzen und vom Land abzustoßen. Bei Habernis waren die ersten 20 Seemeilen (36 km) immer der Grenze entlang gepaddelt, und der erste Platz zum Übernachten war ideal: ganz allein an der Landzunge vor einer Steilküste mit Blick auf den Kalkgrund Leuchtturm in der Einfahrt zur Flensburger Förde - und ich hatte an alles gedacht. Auch mein Satellitentelefon funktionierte, sogar nach USA, und meine liebe Frau war zu der verabredeten Zeit da. Thanks, Nancy! Interessant war nur, dass auf der Rechnung später “Dänemark” stand.
Start in Flensburg
Schon am nächsten Tag musste sich mein Boot bewähren. Es blies aus SSW mit Windstärke 4-5, und die Wellen auf der doch recht großen Geltinger Bucht begannen sich zu brechen. Aber das offene Boot hielt sich tapfer, rollte mit den Wellen und blieb trocken, und ich hatte nie das Gefühl, dem Kentern nahe zu sein. Bis zur Landspitze Birk mit den Wellen von hinten war es viel Spaß, aber die nächsten 13 Seemeilen (23,4 km) direkt in den Wind der Küste entlang bis kurz vor Damp 2000 waren viel Arbeit. Beim Leuchtturm Schleimünde machte ich eine kurze Pause und dachte an die vielen Wikinger Schiffe, die hier einst auf ihrer Fahrt nach Haithabu durchgesegelt oder gerudert sein müssen. Dies hier war die alte Nord-Ostsee-Verbindung: von Haithabu etwa 15 km über Land und dann weiter auf der Treene und Eider in die Nordsee. Bei dem guten Wind segelten viele Boote durch diese Enge, und für mich waren das plötzlich alles Klinkerboote mit rot-weiß gestreiften Rahsegeln und Drachenköpfen am Bug.
Kurz vor Damp 2000 war mein Tagesziel erreicht, und ich baute mein granitfarbenes Zelt neben ein paar Findlingen und vor einem großen Rosenbusch auf. Mein grünes Boot legte ich parallel zum Grasrand - ich war einfach nicht mehr als Camper zu erkennen, und den ganzen Nachmittag gingen Wanderer auf der anderen Seite meiner Strandrose an mir vorbei, und keiner sah mich - großartig.
Der nächste Tag hätte schwierig für mich werden können. Ich musste an verschiedenen militärischen Sperrgebieten vorbei, zuerst an einem Übungsgebiet für Minenleger, dann “unrein, Munition”. Danach wurde es schwieriger: ich musste durch das U-Boot-Übungsgebiet und vor der Torpedoabschussrampe vorbei, alles immer mit Warnschildern versehen: “Schusswaffen in Gebrauch”. Aber heute war Samstag, und ich war froh, dass unsere deutschen Nato-Verbündeten am Wochenende nicht schießen. Statt dessen sah die Eckernförder Bucht bei dem wunderbaren Südwest-Wind wie ein Wolkenmeer von Segeln aus.
Die Steilküste um den Dänischen Wohld in die Kieler Förde war wirklich beeindruckend, aber meine Gedanken schweiften zurück in meine frühe Kindheit in Kiel, die Kriegsjahre in Luftschutzkellern in der U-Boot Stadt und dann in meine Studentenzeit an der Christian Albrecht Universität. Erst nach dem Ehrenmal in Laboe ging meine Fahrt wieder unbeschwert weiter.
Steilküste bei Dänisch-Wohld
Bei dem kleinen Ort Kalifornien hatte ich wieder 20 Seemeilen gepaddelt und musste natürlich als Amerikaner hier haltmachen. Das war aber nicht so leicht. Die 65 Kilometer von Laboe bis Fehmarn sind fast ununterbrochener Strand, der fast immer einer Gemeinde gehört und gebührenpflichtig ist. Und da es hier weder Baum noch Rosengebüsch am Strand zum Verstecken gab, entschied ich mich, mich auf dem offenen Strand direkt am Wasser visuell aufzulösen. Am Strand lief alle 100 Meter eine Steinmole ins Wasser. Ich entschied mich, der größte Stein am Ende eines solchen Wellenbrechers zu sein, mit einem Streifen Seetang dabei (mein grünes Kanu).
Die Tarnung war so perfekt, dass Strandwanderer am Nachmittag bei meinem Zelt anhielten, lachten und mir im Zelt sagten, dass sie “nur bis zu dem großen Findling da am Strand wandern wollten.” Ich erzählte ihnen, dass ich mich vor der “Strandpolizei” verstecke. Sie versprachen, mich nicht zu verraten.
Bei Todendorf musste ich wieder durch ein militärisches Sperrgebiet. Es war einfach zu groß, um es in meinem kleinen offenen Boot zu umfahren.
Ich war bereits beim letzten Wachturm, als ein Boot mit Außenbordmotor auf mich zu kam. “Sie sind gerade durch ein militärisches Sperrgebiet gefahren. Das ist streng verboten .....” “Bin ich durch?” war meine Gegenfrage, die der Uniformierte etwas verdutzt bejahte. Ich versicherte ihm, dass ich auf einer Durchreise sei und nicht zurückkommen würde und paddelte weiter. Minuten später, um genau 9:00 Uhr, fing das Geballer an, hier an Land, auf See und bei Putlos auf der anderen Seite der Howachter Bucht.
Am nächsten Morgen war ich schon um 5:00 Uhr statt gewöhnlich um 6:00 auf dem Wasser, um bei Putlos unbemerkt vorbeizukommen, d.h. vor 9:00 Uhr und der zweiten Tasse Kaffee der Nato-Brüder. Ich schaffte es wieder bis zum letzten Kontrollturm, aber da merkte ich, dass sich da etwas an Land tat. Dann hörte ich auch schon einen Lautsprecher: “He, Sie da! Kommen Sie doch mal her!” In ruhigen Zügen kam ich näher, wies mit dem Paddel auf die Seite meines Kanus, wo ich eine deutsche und eine amerikanische Fahne aufgeklebt hatte sowie den Text: DEUTSCHE OSTSEE, VON DÄNEMARK NACH POLEN.
Ohne weitere Ermahnung wurde ich durchgewinkt - das gefiel mir. Um 9:00 Uhr fing das Schießen wieder an. Ich erfuhr später, dass Putlos an Land einen Panzerschießstand hat, aber auch ein Zielgebiet im Wasser. Bei Todendorf sollen junge Rekruten mit Gewehren und MGs von der Steilküste aufs Meer schießen, ein Gedanke, der mir weniger gefiel.
Aber alles war schnell vergessen, als die meist fotografierte Brücke Deutschlands am Horizont auftauchte. Ich hatte die Brücke zur Insel Fehmarn noch nie gesehen, da sie erst 1963, ein Jahr nach meiner Abreise nach USA, gebaut wurde. Ich war beeindruckt von der simplen Eleganz der Konstruktion, machte etliche Bilder, aber hatte den Fehmarnsund irgendwie größer in Erinnerung. In der Orther Bucht schlug ich mein Zelt auf, denn ich wollte in den nächsten zwei Tagen um die Insel paddeln.
Fehmarnbelt-Brücke
Dann kam der Wind auf, aus Westen, und blies die ganze Nacht. Als ich am Morgen meinen letzten Seesack vom Zelt zum Wasser trug und mich umdrehte, war mein Zelt plötzlich weg, futsch, einfach nicht mehr da. Der Wind hatte das Zelt samt Pflöcken aus der Erde gerissen, den Deich hinaufgeblasen, und ich sah es dann wie ein großes Wollknäul über eine Kuhweide rollen, bis es an einer Hecke hängenblieb. GSD, ohne Schaden, nur die Pflöcke waren nicht mehr zu finden.
Die 4 km über die Bucht nach Krummsteert direkt in den Wind waren schwer und nass, aber draußen vor der Spitze auf Flügge Sand stand die Brandung bis zum Horizont. Da war kein Durchkommen in einem offenen Boot, und ich zog mich auf ein paar Stunden hinter die Landzunge zurück.
Der Wind schien sich nach zwei Stunden etwas gelegt zu haben, und als ich meinen Bug wieder um die Huk steckte, sah ich einen dünnen Streifen Wasser zwischen Außen- und Strandbrandung, wo sich die Wellen weniger brachen, als wenn da ein etwas tieferer Priel verliefe, und schon war ich da und tanzte mit den Wellen, wie ich das schon so oft gemacht hatte: die Wellen anstarren und den brechenden Teil meist durch Sprints oder manchmal leichtes Abstoppen vermeiden, und wenn beides nicht geht, scharf in die brandende Welle fahren und mit dem Paddel festes Wasser fassen.
Drei Stunden später, als ich die Nordwestecke der Insel bei Westermarkelsdorf rundete, hatte ich es geschafft. Beim Niobe-Denkmal gedachte ich der 69 Seeleute, die hier 1932 ertranken, als ihr Schulschiff an einem himmelblauen Sommertag mit vollem Zeug und offenen Luken von einer plötzlichen Sturmbö überrascht wurde, kenterte und vollschlug. Noch vor Puttgarden schlug ich mein Zelt auf. Ich hatte für heute genug gepaddelt.
Der nächste Tag verlief problemlos, bis ich Staberhuk, die scharfe Südostecke der Insel, rundete. Plötzlich spürte ich die volle Kraft des SW mit Windstärke 5. Mein Kurs war West, zurück zur Brücke, und ich kam nur langsam voran und musste aufpassen, nicht vollzuschlagen oder auf die Steinküste geworfen zu werden. Du hast ja nur ein Leihboot, musste ich mir des öfteren sagen. 2 km vor der Brücke wurde der Himmel plötzlich pechschwarz - eine Gewitterfront, und schon blitzte und donnerte es. Zum Glück fand ich einen kleinen Sandstrand und landete mein Boot durch die Brecher. Ich hatte gerade meinen Regenanzug angezogen, als der Wind plötzlich die Wellenkämme horizontal wegblies, und ein Hagelsturm auf mich niederprasselte.
So schnell wie das Gewitter gekommen war, zog es auch wieder ab. Ich zerrte mein Boot zurück ins Wasser und entschied mich, in der gewöhnlich kurzen “Ruhe nach dem Sturm” über den Sund nach Elandsdorf zu setzen. Dort hatte ich gerade mein Zelt aufgestellt, als es wieder zu gießen anfing. Alle meine Sachen waren aber trocken geblieben, und ich wurde schnell wieder warm in meinem Schlafsack, mit Wollsocken und Mütze, sowie mit Kaffee und heißer Schokolade.
Um Fehmarn herum zu kommen, war nicht leicht, aber ich hatte es geschafft.
Ich musste es schaffen, denn sonst würden meine Freunde über meine ganze Fahrt sagen: “Er hatte ja eigentlich auch um Fehmarn paddeln wollen. Aber das hat er ja denn doch nicht ganz geschafft.” Er hat es aber geschafft, mit 63 Jahren sogar, und ganz allein in einem offenen Boot und ohne GPS und Wetterbericht. Die restliche Strecke nach Lübeck, direkt nach Süden, mit einer “Schutzküste” im Westen, wird entschieden leichter sein, hoffte ich, und war’s dann auch.
Das Wetter der nächsten paar Tage war ausgezeichnet, sonnig und warm mit leichten, wechselnden Winden. Das Paddeln wurde mechanisch, und ich döste so vor mich hin, als ich plötzlich vor dem Ort Lenste meinen Namen hörte. Jemand rief mich von Land. Meine Schwester und mein Schwager wollten mich mit einem Strandpicknick überraschen. Ich hatte sie am Abend zuvor von Elandsort angerufen, um ihnen zu sagen, dass meine Fehmarnumrundung gut verlaufen war, wenn auch nicht leicht. Am Strandcafé in Lenste tranken wir sogar noch richtig Kaffee mit Apfelstrudel - welch Luxus nach meinem täglichen Muckefuck mit fettfreiem Milchpulver.
Lunch bei Lenste
Abends übernachtete ich bei Brodau am Strand bei demselben großen Findling, dem “Nixenstein”, den ich noch gut von einem Rote Kreuz Kinderlager 1951 in Erinnerung habe. Damals wurde ich als schmächtiges Bürschlein dort hingeschickt - heute, 51 Jahre später, mache ich eine 700 km lange Solo-Kanureise. Tempus fugit.
RZ, rechts, mit Geschwistern, im Rote Kreuz Sommerlager
Die Neustädter Bucht bietet jedem Geschmack etwas: da sind die alten traditionsgebundenen Bäder wie Haffkrug, Scharbeutz und Timmendorfer Strand, aber da ist auch Hansaland, ein immenser Freizeitkomplex mit 6 gewaltigen Hochhäusern und einem Freizeitpark. Ich jedoch konnte es kaum erwarten, der Viermast-Bark Passat gegenüber in der Traveenge meine Mittagspause zu machen.
Es war Samstag, und der Bootsverkehr war erstaunlich: die großen Schnellfähren nach Schweden und Finnland überragten selbst die hohen Masten der Passat. Zwei Welten trafen sich hier, die “Windhunde der Meere”, die “Flying-P-Liners”, wie die Passat, Peking, Padua, Pamir, der Hamburger Reederei Laeiz, und dann die modernen Schnellfähren wie Peter Pan.
Fährschiff 'Peter Pan' in Travemünde
Morgen geht es die letzten 21 km dieTrave rauf nach Lübeck, wie es die alten Hanse Koggen und Karavellen einst voll beladen mit den Schätzen der Welt, einschließlich Salz und Bernstein, gemacht haben. Vom 12. bis 16. Jahrhundert war Lübeck die “Königin der Hanse” und übte ihren Einfluss über mehr als 200 Städte an Nord- und Ostsee bis hin zum Schwarzen Meer aus. Am 3. Juni, um genau 12:00 Uhr mittags, wollte ich bei der Brücke am alten Holstentor sein, und so war es auch. Damit endete der erste Teil meiner Reise: 375 km in zehneinhalb Tagen, genau wie geplant, keine Schramme am Boot, nicht einmal eine Blase an den Händen.
DEUTSCHE OSTSEE
IM OFFENEN KANU
ZWEITER TEIL
LÜBECK-AHLBECK
Die große Familienparty endete heute früh und war ein großer Erfolg. Nach ein paar Stunden Schlaf war ich aber schon wieder am Packen für den zweiten Teil meiner Reise, die Ostseeküste der ehemaligen DDR entlang. Der Start war morgen um 6:45 Uhr, und zwar bei der Passat in Travemünde. Ich wollte mir die 21 km auf der Trave sparen, denn die kannte ich ja schon.
Vier-Mast-Bark Passat
Die ersten 22 km der Mecklenburgischen Küste waren ein scharfer Kontrast zu der affluenten, dicht besiedelten Küste westlich der Travemündung. Diese Küste war fast leer, kaum ein Haus, kein Dorf, bis hin zu Boltenhagen. Dies ist die alte Pufferzone zwischen Ost und West. DDR-Bürger wurden von der Grenze zum Westen ferngehalten, was wider Willen eine Art “grünen Gürtel” oder Naturschutzgebiet schuf.
An der Spitze zwischen Boltenhagen und Tarnewitz mit alten Sperrgebieten, sah ich dann auch meinen ersten deutschen Adler überhaupt, einen Seeadler, der im Körperbau dem amerikanischen “Bald Eagle” gleicht und sogar etwas Weiß am Schwanz hat, aber nicht am Kopf. Am Nachmittag in meinem Zelt hörte ich dann auch das beste Singvogelkonzert der ganzen Reise, mit dem Bass einiger Raben eingemischt. Ich war beeindruckt, doch nicht von den alten Wachtürmen, von denen immer noch einige auf den Dünen am Strand standen.
Der nächste Tag war grau, windig und schließlich regnerisch. Ich schaffte es an Wismar vorbei und über die große Bucht zur Insel Poel. Ich musste in der Großen Wiek haltmachen, da die Halbinsel Wustrow nicht nur ein Naturschutzgebiet (8 km lang), sondern auch ein Munitionssperrgebiet ist. Diese reichen laut Karte 2,5 km in die See und können einem Kanufahrer echt Sorgen bereiten, aber erst morgen, sagte ich mir.
Der Morgen war aber nicht viel besser: kühl, regnerisch und windig, und das hieß für mich, es ist unmöglich, das Gebiet zu umfahren. Also ganz früh und ganz vorsichtig außerhalb der Brandung die Küste entlang durchs Naturschutz- und Munitionssperrgebiet (das ich meiner Frau zu Hause verschwiegen hatte), und dann weiter an Rerik, Kühlungsborn und Heiligendamm vorbei.
An der Ecke vor Kühlungsborn, auf dem Trollegrund, kamen die Wellen direkt von hinten und waren plötzlich viel höher und länger als zuvor. Dann geschah es, mein Heck wurde gehoben, und ich befand mich in Gleitfahrt wie ein Surfer - ein unglaubliches Geschwindigkeitsgefühl für ein vollgeladenes Fahrtenboot. Mein Boot versuchte nach links auszuscheren, was bestimmt mit einer Rolle und “Waschmaschine” geendet hätte. Ich hebelte es aber wieder auf Geradeaus-Kurs, und dann brach auch schon die Welle unter dem Bootskörper durch, und alles war vorbei. Das Ganze hat nicht mehr als 20 Sekunden gedauert, aber ich war in Schweiß gebadet.
Der Rest des Tages war weniger aufregend. Kühlungsborn und besonders Heiligendamm, dem ältesten Ostseebad, sah man sein Alter an, und überall wurde neu gebaut und renoviert. Das Schönste an der Küste hier waren die hohen, dichten Buchenwälder, die wie ein dunkler, geheimnisvoller Märchenwald zum Wandern einluden.
Weitere 18 Seemeilen (32 km) brachten mich am nächsten Tag an Warnemünde vorbei nach Graal-Müritz. Der Wind war den ganzen Tag immer stärker geworden, sodass es an der Zeit war, durch die Brecher an Land zu kommen. Kaum hatte ich mein Zelt aufgebaut, als es erst recht losging. Und es blies bis zum übernächsten Morgen ohne Pause. Die See war weiß bis zum Horizont, und am Strand blies der Wind den feinen Sand vor sich her, bis die Steine sichtbar wurden. Ich fürchtete, mein Zelt würde zu einer Zeltbahn reduziert werden, aber es blieb laut flatternd und knallend stehen. Ich verbrachte die meiste Zeit in meinem Schlafsack, halb im Schock von der Gewalt des Windes.
Windtag in Graal-Müritz
Am übernächsten Morgen um 7:00 Uhr hatte sich der Wind ausgeblasen und einen breiten Streifen Seetang vor sowie ein paar kleine Sanddünen hinter meinem Zelt und Boot hinterlassen. Ostseewellen sind Windwellen, und die See kommt deshalb ziemlich schnell wieder zur Ruhe, wenn der Wind nachlässt. Ich schaffte es an dem Tag um Darßer Ort und die Bernsteininsel herum und an Zingst vorbei bis zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft (45 km). Wie ich aber um halb elf abends erfuhr, hatte ich mich um 300 Meter verschätzt, da nirgendwo ein offizielles Parkschild oder eine Umzäunung zu sehen war. Die zwei Herren vom Park ließen mich aber bleiben, da der Wind wieder aufgefrischt hatte, und ich versprach, um 6:00 Uhr morgens im Boot zu sein.
Wieder war Wind, aber ich wollte und musste los, obwohl es keine leichte Sache werden würde, um den Bock, eine 10 km lange und 2 km breite Sandbank, herum in den Strelasund nach Stralsund zu kommen. Die Wellen brachen sich rechts und links von mir. Es war ein Tanz ohne Pause, voller Konzentration und Energie - ein wunderbar erregendes Gefühl, und als Bonus ein Seeadler über der Einfahrt. Ein paar Stunden später konnte ich von meinem Zelt aus die alte Hansestadt Stralsund sehen mit ihrem massiven Backsteindom und der beeindruckenden Rathausfassade.
Nach all den Windtagen war der nächste Tag den Sund hinunter nach Greifswald fast zu ruhig und zu monoton. Nur die Insel Riems gab mir ein Rätsel auf. “Seuchensperrgebiet” stand da auf meiner Seekarte um die Insel herum. Erst nach der Reise erfuhr ich, was hier los ist: Auf der Insel wird Rinderwahnsinn Forschung betrieben. Da ich das aber nicht wusste und mir das Wort “Seuche” gar nicht gefiel, fuhr ich um die Insel einen großen Bogen und beobachtete die Enten, Taucher und Schwäne. Da die aber alle gesund und nicht verseucht aussahen, dachte ich mir zuversichtlich, würde ich es auch schon schaffen.
Der Greifswalder Bodden wurde immer seichter, und die Ufer waren verschilft und zum Camping nicht geeignet. Da folgte ich einem Roten Milan (Gabelweih) über die Bucht (Dänische Wiek) zu einem Kiefernwald mit Sandstrand. Nach 51 km, meiner längsten, aber bei weitem nicht schwersten Strecke, konnte ich einen ruhigen Strandnachmittag mit Schwimmen, Lesen, Schreiben und Kaffee genießen, wie fast immer ganz allein am Strand. Ich merkte auch, dass sich meine Reise ihrem Ende näherte, laut Plan, nur noch eine Übernachtung kurz vor Zinnowitz.
Was mir am nächsten Tag zuerst auffiel, war das Kernkraftwerk Lubmin/Freesendorf mit seinen vier großen Schornsteinen. Die Hafeneinfahrt wurde neu gebaggert, und laute Fabrikgeräusche waren zu hören. Meine Seekarte sagte “ehemalig”, aber mir sah alles recht aktiv aus. Und während sich mir Bilder von Chernobyl aufdrangen, paddelte ich merklich schneller, um an diesem Kernkraftwerk sowjetischen Bauplans vorbeizukommen. Dann plötzlich sah ich drei Seeadler über dem Grasland kreisen, und alles war vergessen bis ich zur Mündung der Peene kam.
Auf der Usedom Seite machte ich kurz an einer Uferböschung halt und merkte, dass es das Ende der Start- und Landebahn des ehemaligen Militärflugplatzes war. Dies war das berüchtigte Peenemünde, das Raketenforschungszentrum Hitlers. Von hier hatte Wernher von Braun seine V1 und V2 Raketen abgefeuert, derselbe, der 1969 Neil Armstrong in seiner Saturn V Rakete von Cape Canaveral, USA, zum Mond schickte. Kleine Welt, und wie sich doch die Zeiten ändern! Und als ich das schweratmend durchdachte, kreisten plötzlich vier Seeadler direkt über mir und der Start- Landebahn, und ich freute mich, dass es nicht mehr Fieseler Störche, Stukas oder Messerschmitts waren.
Voller Hoffnung machte ich dann den großen Bogen um die seichte Nordspitze Usedoms, einschließlich ein halbes Dutzend Schiffswracks. Sind die Schiffe einfach aufgelaufen, oder waren es Barrikaden oder gar militärische Ziele aus der Hitler- oder DDR- Zeit? Ich habe es nicht erfahren können.
Auf der Nordostseite Usedoms erwartete mich ein starker Gegenwind, der mir schwer zu schaffen machte und alle historischen Gedanken im Nu vertrieb. Der sieben Seemeilen (12,6 km) lange Sandstrand nach Zinnowitz war ohne Frage imposant, weiß und breit und von einer undulierten Dünenkette flankiert. Dazu war es endlich mal ein sonniger Tag, und die Sommergäste hatten ihren Spaß am und im Wasser, von Bojenfeldern vom Bootsverkehr, einschließlich Kanus, geschützt. Mir war das recht. Ich paddel sowieso außerhalb der Brandung, und ein paar hundert Meter weg ist alles viel ruhiger, und ich bin wieder allein.
Außerdem bin ich als Amerikaner nicht daran gewöhnt, so viele Nackedeis zu sehen. Das scheint irgendwie Mode geworden zu sein, auch oder gerade für Männer. Ich sehe sie am Strand herumstolzieren, oder sie stehen mit den Händen auf den Hüften und wissen nicht, was sie mit ihrer Emanzipation und Natürlichkeit machen sollen. Ich weiß nur eines, wenn die nicht aufpassen, bekommen sie Hautkrebs.
Eine Seemeile (1,8 km) vor der Seebrücke in Zinnowitz machte ich meinen letzten Halt. Ich zog mich weit auf den Strand zurück, aber diesmal war ich nicht allein; das ließ sich aber nicht ändern.
Nur noch 15 Seemeilen (27 km) bis Ahlbeck, der offiziellen Zoll- und Grenzstation. Um “High Noon” wollte ich wieder da sein - kein Problem. Am Morgen kam der Wind aus Nordnordost und wurde mit jeder Stunde stärker, sodass ich viel früher als geplant an der Seebrücke ankam. Der Strand und die gelblich melierte sandige Steilküste waren ein zünftiges Ende meiner Ostseefahrt, wirklich photogen. Die Insel Usedom hat ohne Frage die imposantesten und üppigsten Strände an der gesamten deutschen Ostsee. Ich war beeindruckt.
Und dann kam ich auch schon an der Außenspitze der neuen Seebrücke Ahlbeck an. “Wo wollen Sie denn hin?” rief von oben ein Zollbeamter zu mir hinunter. “Ich bin am Ziel”, erwiderte ich und sagte ihm kurz, dass ich von einer Grenze Deutschlands zur anderen gepaddelt bin, von Dänemark nach Polen. “Gut gemacht!” war seine offiziell klingende Antwort, und da trieb mich auch schon die nächste Welle an ihm vorbei.
Beim Landen hätte mich eine Welle beinahe noch erwischt, als ich nach meiner Schwester Ausschau hielt, statt mich auf die Wellen zu konzentrieren. Aber das gibt’s nicht nach 700 km ohne Zwischenfall und dazu noch vor Zuschauern!
Ich war zwei Stunden zu früh und hatte Zeit, mein Fahrtenbuch zu schreiben und von einiger Entfernung die Leute zu beobachten, als sie an meinem gestrandeten Boot mit den Aufklebern vorbeigingen. Die meisten konnten nichts mit dem Boot und dem Text anfangen, hoben die Schultern, als wollten sie sagen: “Ja, soll er doch!” Nur einige zeigten auf den Text, sprachen miteinander, sahen sich dann um, fanden mich da am Strand mit meiner Wasserflasche und Müsliriegel sitzen und hatten viele Fragen.
Am Zollpier in Ahlbeck - Ende der Reise
Sehr bald kam dann auch meine Schwester, etwas enttäuscht, dass ich schon da war, denn sie wollte mich ankommen sehen und hatte sogar mit der lokalen Zeitungsreporterin ein Interview geplant. Minuten später war auch sie da mit Notizblock und Digitalkamera. Ich musste mich wieder in mein Boot setzen mit meinem schwarzen Kohlefaserpaddel auf dem Schoß, wie ein stolzer Wikinger mit seinem Schwert. 700 km in 20 Tagen - nicht schlecht für einen Fast-Pensionär; den Windtag konnte ich sogar wieder wettmachen.
Und plötzlich überkam mich ein enormes Gefühl der Vollendung. Nach gut 50 Jahren hatte ich mir endlich meinen Jugendtraum erfüllt, die gesamte deutsche Ostseeküste zu sehen. Nils Holgersson und sein deutscher “Vetter”, Peter Jünk, sind bestimmt stolz auf mich, aus dem Wunsch Wirklichkeit gemacht zu haben und die See zu erfahren, die die Welt meiner Kindheit umschlingt, und zu sehen, wie sie sich weitet und am Ende auch die große Welt umfasst.
Ausrüstung und Info:
16 Fuß (4,88 m) Penobscot Indianer Kanu der Firma OLD TOWN CANOE CO., Old Town, Maine, USA
(Vertreter für Deutschland: Uwe Goetz, Kanu-Großhandel,Billbrookdeich 203, D22113 Hamburg - Kagro@paddling.de)
11 Grad geknicktes Kohlefaserpaddel der Firma Zaveral, New York, USA (11 Unzen - 312 Gramm)
Kajak Kompass der Firma Ritchie, Boston, USA
Iridium Satellitentelefon
Sportschifffahrtskarten: Ostsee (#1, #2, #4) der Nautischen Veröffentlichung Verlagsgesellschaft mbH, Arnis (www.boat.de/clown/inv.htm)
Info Bücher:
HB Bildatlas, Ostseeküste, Schleswig-Holstein
HB Bildatlas, Ostseeküste, Mecklenburg-Vorpommern
Selma Lagerlöff: Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen.
August Clausen: Peter Jünks Reisen mit der Silbermöwe. Verlag Heinrich Möller, Rendsburg. 1936/65
Kurzbiographie:
RZ ist 1939 in Kiel geboren und kam 1962 als Magisterkandidat und Doktorand nach USA. Heute ist er Deutschprofessor an der Universität Maine, USA. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Er hat etliche lange Kanufahrten auf dem Atlantik, dem Golf von St. Lawrence, in der Fundy Bay und auch in Florida gemacht und sie in Reiseberichten beschrieben und in verschiedenen Zeitschriften publiziert. Seit der Ostseefahrt versucht er sich in polynesischen Solo-Auslegerkanus auf dem Atlantik.
© Reinhard Zollitsch
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