Reinhard Zollitsch
Der Everglades Nationalpark
Zehn Jahre in den Everglades...nun, nicht wie die Oldtimer Gregorio Lopez, Arthur Darwin oder der berüchtigte Ed Watson; nein, nicht einmal wie die jüngsten Bewohner der Glades, Totch Brown oder mein Chokoloskee Freund Thornton. Ich bin nur ein Zugvogel aus dem kalten Staat Maine, USA, der jetzt schon über 10 Jahre je 10 Tage in den Frühlingsferien seine Federn, Finger und Füße im warmen Wasser des Everglades Nationalparks in Florida wärmt.
"Zugvogel" mit Seesack und Kanupaddel
Der Park liegt in der Ecke unten links in Florida und erstreckt sich 160 km von Everglades City im Norden nach Flamingo im Süden. Er ist aber nur etwa 100 km breit. Das Wasser vom riesigen Okeechobee See im Norden läuft langsam durch das Grasland nach Süden in eine Kette von Auffangseen, die fast alle miteinander verbunden sind, und von dort etwa 15-20 km auf breiten Flüssen (Lopez, Chatham, Huston, Harney und Shark) in den Golf von Mexico (siehe Karte).
Von den Seen zur Küste ist dichter Mangrovenwald, mit tausenden von kleinen Wasserarmen durchzogen. Camping macht man hier auf kleinen Holzplatformen auf Stelzen. Sogar ein chemisches Klosett gibt's da, das vom Parkpersonal regelmäßig versorgt wird.
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Entlang der Küste sind kleine Korallen/Muschelsandinseln, von denen etliche zum Camping freigegeben sind. Reservierungen kann man für ein paar Dollar 24 Stunden vor Abfahrt in Everglades City oder Flamingo machen, nicht früher. Leihkanus mit minimaler Ausrüstung sind dort auch zu finden. Die NOAA Seekarten für das Gebiet sollte man sich aber schon vor der Abreise besorgt und genau angesehen haben; und den Kompass bitte nicht vergessen!
Es ist sehr leicht, in der monoton immergrünen und flachen Mangrovenlandschaft seine Orientierung zu verlieren - und das ist nicht schön. Man kann auf dem Mangrovenwurzelgeflecht nicht aussteigen - es gibt da kein Land im wahrsten Sinne; und nachts kommen die Stechmücken und beißenden Sandfliegen (sandflies). Aber keine Angst; es gibt auch Trips mit Führung und so - aber nicht für mich.
Mein erster Besuch im Park
Bereits beim ersten Besuch im Park kam ich mit zwei Seesäcken voll ausgerüstet in Everglades City an, mietete ein 17 Fuß (5 m) Alu-Kanu, das ich vom Bugsitz solo in Richtung Heck paddelte (wie auch entlang der deutschen Ostseeküste von Dänemark nach Polen - siehe KANUSPORT, Aug. 2003). Die 40 Liter Wasser gebrauchte ich als Bootstrimm.
Jetzt geht's los
Mein Abflug ist meist so um den ersten März, und fast jedes Mal erschwerte ein Schneesturm oder gar Blizzard meinen Start in Bangor, Maine. Aber alles ist schnell vergessen, wenn man bei 20-25 Grad Celsius sein Zelt aufschlägt. "This is the life!" Besser geht's nicht! Die erste Nacht verbringe ich auf dem Sweetwater Chickee, einer 3X4 m Stelzplatform tief im Mangrovenwald, und ganz allein. Die Fische springen die ganze Nacht; ich hör das explosive Aus- und Einatmen einiger Delphine und in der Ferne das tief-rollende Gurgeln der männlichen Aligatoren - für mich die beste Medizin, mich vom täglichen Schulstress als Lehrer zu erholen.
Mein Ziel für meine zweite Übernachtung war Willy Willy, eine winzige Insel, ehemals Muschelhaufen, noch tiefer im Mangovenwald, auf der Miccosukee und Seminole/Calusa Indianer wer weiß wie lange Austern gegessen haben, bis da schließlich eine richtige kleine Insel entstand. Um mich herum sah ich aber etliche Augenpaare und Nasenlöcher von weggetauchten Aligatoren, wie sie mich, den Eindringling, abschätzten. Ich zog mein Alu-Kanu in ihre Rutsche, um klarzustellen, dass Willy Willy diese Nacht für mich reserviert war.
Die nächsten zwei Tage verliefen ebenso neu und erregend für mich. Ich navigierte durch etliche große Seen und dann den Broad River runter bis fast zur Mündung. Von dort sollte es früh am nächsten Morgen mit der Flut durch die "Nightmare" (den Alptraum) in den Harney und Shark River gehen, die schwierigste Strecke im ganzen Park. Die "Nightmare" ist 8,5 Meilen (14 km) durch den Wald, wörtlich, auf einem Wasserpfad, der oft nicht viel breiter als ein Kanu und nur bei halber bis voller Flut befahrbar ist. Bei Ebbe kann man da leicht 6 oder mehr Stunden steckenbleiben - aussteigen geht da nicht.
Einfahrt in die "Nightmare"
Mit Kompass, Stoppuhr und genauer Seekarte ging aber alles klar, bis ich endlich zum Shark River Chickee kam. Ich war gerade dabei, meinen Bohneneintopf zu kochen, als ich in der Ferne ein tiefes Brummen oder Summen hörte, wieder ein ganz neues Geräusch für mich, das mir aber nicht gefiel. Ich prüfte meine zwei Leinen zum Boot und zog mich in meine "Tuchburg", sprich "Zelt", zurück. Minuten später war ich von einer Wolke Moskitos umgeben. Lass summen, dachte ich mir, wenn sie morgen früh nur wieder weg sind!
Dichter Nebel grüßte mich am Morgen, aber die kleinen Blutsauger waren GSD weg. Nebel ist kein Problem für mich. Ich komm' aus Maine, und der Atlantik bei uns oben und in den kanadischen maritimen Provinzen wie Nova Scotia sind dafür bekannt. Mit einer weiteren Zwischenstation in South Joe River kam ich am 6. Tag in Flamingo an.
Auf kalkig-grünem Golfwasser in Flamingo
Everglades für Touristen
Da schlug mir eine Touristenwelle ins Gesicht, die mir nach einer Woche totaler Einsamkeit gar nicht gefiel. Dies hier ist das Haupttor zum Everglades Nationalpark, und jeder Hans und Franz schien hier im Leihauto über Miami angekommen zu sein, um in einem der Motels und Infohallen etwas "Natur pur" einzuatmen. Da war sogar ein richtiger kleiner Hafen, von wo Touristen auf einem Zweimast-Schoner mit roten Segeln den Sonnenuntergang bestaunen konnten... Genug davon.
Ich trug still mein Kanu um die Schleuse und paddelte weiter auf dem flachen, kalkig-grünen Golfwasser zum Cape Sable, einem viele-Kilometer-langen Sandstrand an der Südwestecke Floridas. Am liebsten wäre ich von dort wieder zurück nach Everglades City gepaddelt; aber dafür war dieses Jahr die Zeit zu knapp.
Cape Sable
Die nächsten 10 Jahre - auf immer neuen Wegen durch den Park
In den folgenden 10 Jahren bin ich mehrmals solo von Everglades City nach Flamingo und zurück gepaddelt, besonders auch, weil ein "car shuttle" (Abholdienst per Auto) einfach zu umständlich und zu teuer ist. Ich hab mir den Naturschaden angesehen, den Hurrikan Andrew im Sept. 1992 im Park verursacht hat, und war mitten drin im Jahrhundertsturm von 1993, als der Campingplatz in Flamingo unter Wasser stand. Ich packte all meine Sachen in mein Boot, band es an zwei starken Palmen fest und schlief bis zum Morgen im Boot.Hurrikan Andrew war hier (1992)
Im Jahrhundertsturm (1993) in Flamingo
Die meisten Jahre aber verliefen ruhiger. Ich hatte Gelegenheit, die Vielfalt der tropischen Vögel zu bestaunen, einschließlich "anhingas, purple gallinules, roseate spoonbills und wood storks". Nur Flamingos darf man nicht in Flamingo erwarten. Dafür sieht man aber viele braune sowie weiße Pelikane, die gekonnt aus erstaunlicher Höhe mit angelegten Flügeln ins Wasser schießen und dann mit ihrem großen Hautkropf die kleinen Fische fangen.
Die Aligatoren sind zum Glück nicht so aggressiv wie die weniger häufigen Krokodile. Völlig harmlos sind die plumpen Seekühe ("manatees"), dafür aber echt frech die Waschbären und "cotton rats" (Baumwollratten), von denen ich schon etliche in meinem Zelt hatte (einmal an die 20 Ratten des nachts an meiner Müsli Packung).
Ein Jahr wollte dann auch meine Frau mit. Nach vier wunderbaren Tagen mit vielen Aligatoren und sogar einer armdicken Klapperschlange auf unserem kleinen Zeltplatz, fiel dann aber plötzlich die Temperatur auf den Gefrierpunkt, und ein eisiger Nordostwind kam auf. Nancy bekam Hypothermie und lag vermummt und immer noch zitternd im Bug, während ich drei Tage die Golfküste hoch zurückrackerte.
Mit Nancy auf Sweetwater Chickee
In den folgenden Jahren fuhr ich mit unserer älteren Tochter Brenda, meiner Kanurennpartnerin und Wildwasserschlauchbootführerin. Wir haben fast jede Ecke des 160 km langen Parks abgefahren und nur einen Tag wegen zu viel Wind auf dem Golf aussetzen müssen. Sie macht gerade ihren Doktor und kann kaum warten, wieder mehr Zeit zu haben, mit "Dad" in den Everglades zu paddeln. Darüber kann sich ein Vati sehr freuen.
Tochter Brenda mit Krokodil(!)
Das andere Florida - still und fast menschenleer
Also Leute, wie wär's? Seh ich euch da mal? Googelt mal die Gegend im Web. Und bevor ihr geht, besorgt euch bitte die echten NOAA Seekarten ("charts"), und nicht die bunten Touristen Landkarten. Es ist nicht leicht, sich im Park zurechtzufinden. Der Hauptwasserpfad hat zwar kleine Nummernschilder, die aber nicht immer leicht zu finden sind. Ich hab etlichen Paddlern helfen müssen, zurück auf den rechten Weg zu finden.
Autor mit Mangrovenwurzeln
Ein Handy funktioniert hier übrigens auch meistens nicht, um Hilfe vom Park oder Küstenwachdienst anzufordern. Mit einem GPS geht das heute zwar etwas besser. Aber ich fahr weiterhin ohne GPS und sogar schon einige Jahre die ganze Strecke fast ohne Karte, nur so nach dem Gedächtnis, wie die alten Bewohner der Glades: Lopez, Darwin, Watson, Totch Brown und mein Chokoloskee Freund Thornton.
Ich fühle mich in den Glades schon fast wie zu Hause, wenigstens im Februar/März, und kann jedes Jahr so von Silvester an kaum warten, mein kleines Zelt auf dem Sweetwater Chickee, dem Willy Willy Muschelhaufen oder auf Turkey, Rabbit, Pavilion oder Tiger Key aufzuschlagen. Nichts hat denselben beruhigenden Effekt wie die halbdurchsichtigen grünen Mangrovenblätter in der aufgehenden Sonne oder ein Sonnenuntergang unter Palmen am Strand. Für einen alten, mehr an Nieselregen gewöhnten Schleswig-Holsteiner wie mich ist das ein traumhaftes, tropisches Südsee Paradies, eine Zeit der inneren Erneuerung.
"This is the life!"
Gruß,
Reinhard
INFO:
Seekarten: NOAA #11430, #11432, #11433 Everglades National Park, 40001 State Road 9336, Homestead, FL 33034-6733Tel: 305-242-7700; www.nps.gov/ever.
Everglades National Park Boat Tours (ENPBT), bei der Gulf Coast Ranger Station, Everglades City, 941-695-2591 (Miet-Kanus))
William G. Truesdell: A Guide to the Wilderness Waterway of the Everglades National Park. University of Miami Press, 1985.
Dennis Kalma: Boat and Canoe Camping in the Everglades Backcountry and Ten Thousand Island Region. Florida Flair Books, 1991.
Allan de Hart: Adventuring in Florida. The Sierra Club Travel Guide to the Sunshine State. Sierra Club Books, 1991.
Marjory Stoneman Douglas: The Everglades: River of Grass. Rinehart, 1947 (das epochemachende Buch über die Everglades - äußerst lesbar).
Totch Brown: Totch. A Life in the Everglades. University Press of Florida, 1993.
© Reinhard Zollitsch
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